Univ.-Prof. Dr. Rolf Arnold ist Professor für Berufs- und Erwachsenenpädagogik an der TU Kaiserslautern und einer der international führenden Experten in diesem Bereich. Er steht für eine systemisch-konstruktivistische Konzeption von Lernen und Veränderung und begleitete das WIFI wissenschaftlich bei der Entwicklung des neuen Lernmodells.
WIFI: Was versteht die aktuelle Lernforschung unter Lernen? Was passiert dabei im Kopf?
Prof. Rolf Arnold: Wir haben allen Grund, Lernen neu zu denken. Früher stellte man sich Lernen so vor: Ein Hirn schickt ein Fax an ein anderes Hirn. Wenn der Lernerfolg nicht eintritt, dann muss die Faxübertragung, also die Vermittlung, verbessert werden. Heute weiß die Hirnforschung, dass das Wort „vermitteln“ in die Irre führt. Denn ob und wie jemand lernt, hängt davon ab, welche Erfahrungen, welche inneren Bilder bereits vorhanden sind. Menschen bauen sich ihre Weltsicht aus den Mustern, die sie bereits haben. Lernen ist also nicht speichern, sondern neu konstruieren. Wenn das so ist, dann muss man das Lernen ganz anders organisieren, als Unterricht zu halten oder ein Seminar zu geben.
Was meint die Wissenschaft mit „Lerntypen“?
Ich denke, dass solche Typologien mehr schaden als nützen. Menschen haben unterschiedliche Kanäle, wie sie Dinge aufnehmen, und unterschiedlich viel Erfahrung in den einzelnen Kanälen. Wenn man zum Beispiel sagt, jemand sei ein „visueller“ oder ein „auditiver“ Typ, dann legt man diesen Menschen fest. Das ist eine Brille, durch die er oder sie betrachtet wird oder sich selbst betrachtet. Viel interessanter wäre es, auch die anderen Kanäle zum Schwingen zu bringen!
Muss man Lernen auch lernen oder kann das jede/r von Natur aus?
Man kann nicht nicht lernen. Sämtliche Lebensäußerungen des Menschen basieren auf Lernprozessen. Der Mensch hat nur deshalb überlebt, weil er lernfähig war, weil er sich an unterschiedliche Umgebungen anpassen kann. Bildung ist ein Prozess, der nicht gemacht oder hergestellt werden kann. Die Entwicklung von Kompetenzen, von Bildung ist eine Leistung, die Lernende selbst erzeugen müssen. Das heißt: Wir müssen uns von der Illusion verabschieden, dass Menschen dann am besten lernen, wenn sie einen Lehrer haben. Damit unterschätzen wir die Potenziale des Menschen. Wir müssen die Selbstlernfähigkeiten der Menschen ernst nehmen und stärken.
Welchen Einfluss haben Eltern/Lehrer für eine positive Lerneinstellung?
Wir wissen, dass Erfahrungen in der frühesten Kindheit eine Rolle spielen. Kinder brauchen die Erfahrung, dass sie selber etwas bewirken können, dass sie sich etwas zutrauen und Mut zum Risiko entwickeln können. Oft reifen Kinder auch in der Schule in dieser Hinsicht nach, wenn sie entsprechende Bezugspersonen wie Lehrer/innen oder Trainer/innen haben. Übrigens tun dies auch gute Führungskräfte in Unternehmen: Sie stärken die Potenziale der Mitarbeiter/innen.
Wie sehen Sie die Rolle der Lehrenden?
Lehrende sind Begleiter/innen. Ihre Aufgabe ist es, die Lernumgebung möglichst anregend und vielfältig zu gestalten. Die Lernenden und ihre jeweiligen Lernprozesse stehen im Mittelpunkt. Wir müssen aufhören, zu lehren. Vielmehr müssen wir darauf achten, dass die Lernenden Probleme selbst lösen und sich neue Sichtweisen, neues Wissen und neue Handlungsformen selbständig anzueignen in der Lage sind. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die Wende hin zu einer „Fehlertoleranz“, die es erlaubt Fehler zu machen und aus Fehlern zu lernen, denn nur durch Fehler kann sich die neue Fähigkeit wirksam verankern. Man muss sich als Mensch, der etwas Neues lernt, egal ob als Kind oder Erwachsener, trauen, etwas auszuprobieren.
Was bedeutet „Selbstlernkompetenz“ und wie entwickelt man diese?
Schon Maria Montessori, eine Vorreiterin in der Pädagogik, formulierte vor Jahrzehnten: „Hilf mir, es selbst zu tun“. Entscheidend ist, dass ein Mensch von sich selbst erwartet und daran glaubt, etwas bewirken und selbstständig handeln zu können. Diese Selbstwirksamkeit ist die Substanz der Lernfähigkeit. Lernende sollen daher selbst nach Lösungen suchen dürfen und auch die Zeit und den Raum dafür haben. Wichtig ist ein positives Feedback, also die Lernenden nicht ermahnen, sondern sie ernst nehmen, Fehler zulassen und ihnen Wertschätzung entgegenbringen.
Was ist denn die ideale Art zu lernen?
Es ist erwiesen, dass man 80% des Erlernten in seinem Leben außerhalb der Schule durch Erfahrungen lernt. Schüler lernen viel beim Spielen, Erwachsene in der Arbeit, in ihren Beziehungen oder in Vereinen. Je erfahrungsreicher und lebendiger der Lernstoff, desto nachhaltiger funktioniert das Lernen. Dieses Wissen sollten sich Bildungsinstitutionen zu Nutze machen. Vom herkömmlichen „Vermittlungs-Lernprozess“ sind die Lernenden überfordert, denn es kann sich niemand stundenlang konzentrieren. Wir wissen zum Beispiel, dass Schülerhirne gerne von 8-13 Uhr auf „Sleep-Modus“ schalten. Teilweise gibt es schon gute Ansätze mit Praxisprojekten, Fallstudien, lebendigen Gruppendiskussionen – solche Methoden überraschen, irritieren kurzfristig und leiten zum Selbstlernen an.
Was sagen Sie zum Satz „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“? Gibt es Unterschiede beim Lernen von Erwachsenen und Kindern?
Der Unterschied ist, dass Erwachsene schon festgelegter sind, sie haben schon eine Lernbiografie und mehr Erfahrungen als Kinder. Manche denken aus ihrer Vergangenheit „lernen ist nichts für mich“. Prinzipiell funktioniert Lernen aber für Erwachsene und Kinder gleich. Entscheidend ist die Lernmotivation, die dahinter steckt. Am besten lernen Erwachsenen an Hand von Fällen aus ihrem eigenen beruflichen oder privaten Leben.
Wie verändert sich das Lernen in der Zukunft? Was ist Ihre Prognose?
Ich halte es für wenig sinnvoll, Lernende aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen auf das Kommende vorbereiten zu wollen. Viel wichtiger ist es, Lernende „open-minded“ zu machen, sie anzuleiten, mit der Vielfalt umzugehen. Künftig wird das Lernen selbst im Vordergrund stehen. Die Lehrenden sind Begleiter und Berater. Sie leiten an, Fragen zu stellen, Probleme selbst zu lösen und Ressourcen zu stärken. Bildung muss auch nicht unbedingt in Häusern stattfinden. Über Youtube können schon heute Studierende Vorlesungen der Besten eines Faches aus der ganzen Welt abrufen.
Was ist der Unterschied zwischen Wissen und Können?
Früher war Wissen das, was man in Bibliotheken fand. Heute entsteht relevantes Wissen längst nicht mehr nur an der Universität, sondern im Forschungskontext mit Wirtschaft und Unternehmen. Wissen heißt heute, Zusammenhänge zu erkennen. Wissen schafft aber noch keine Kompetenz. Wir müssen da viel nüchterner werden. Man kann nämlich durchaus viel wissen und nichts können. Kompetenz heißt zum Beispiel Fehler erkennen, zuhören können, Lösungen finden.
Welche Rahmenbedingungen braucht es, damit das Lernen nachhaltig und lebendig ist?
Lernen ist dann nachhaltig, wenn es praxisnah, anschaulich und lebendig ist. Wir müssen erkennen: Nur wer eine persönliche Erfahrung macht, kann sich nachhaltig etwas einprägen. Gelerntes Wissen alleine zählt nicht mehr. Heute ist es wichtig, Inhalte so anzubieten, dass die Lernenden Problemlösungskompetenz erlangen, vernetztes Denken üben, wissen, wo sie nachschlagen können, und das Wissen bestmöglich in die eigene Praxis umsetzen können.
Was sind die größten Barrieren für Menschen, wenn sie nachhaltig lernen wollen?
Die größte Barriere ist die gelernte Hilflosigkeit. Lernstätten sind oft Stätten, wo man sich kontrolliert fühlt, sich als unwirksam und ungestärkt erlebt, Angst vor Prüfungen hat. Viele Lehrende unterrichten noch so, wie sie selbst unterrichtet wurden: „Vorlesen statt Selbstlesen“, „Lehren statt Lernen“ und „Zuhören statt Selbstkonstruktion“. Aber es gibt sie, die Treibhäuser der Zukunft! Bildungseinrichtungen, wo Lehrende motivierende Begleiter/innen sind, wo eine anregende Umgebung herrscht, wo moderne Methoden eingesetzt werden, die zum Selbstlernen anleiten.
Welche Rolle haben Trainer/innen?
Moderne Trainer/innen sind achtsame Beobachter/innen, die anregen und Feedback geben. Sie bieten Inhalte möglichst lebendig an und verwenden Methoden und Tools, die auf die verschiedenen Lernvorlieben und die Vielfalt an Vorerfahrungen der Lernenden eingehen. Sie verstehen sich als Lernbegleiter/innen, die die Motivation der Lernenden und ihre Selbstlernkompetenzen fördern und sie dabei unterstützen, die Verantwortung für den Lernerfolg selbst zu übernehmen.
Sie unterstützen das WIFI bei der Implementierung eines neuen Lernmodells. Was sind aus Ihrer Sicht dabei die wichtigsten Parameter?
Entscheidend ist, die Rolle der Trainer/innen als Lernbegleiter/innen in den Blick zu rücken. Und zwar von innen heraus, denn das WIFI hat gute, erfahrene Lehrkräfte, die vielfach schon jetzt moderne Methoden anwenden, die die Selbstlernkompetenz stärken. Gemeinsam erfinden sich die Trainer/innen neu. Ganz wichtig ist auch, auf die Lernenden zuzugehen und ihnen als WIFI sinnvolle Beratungsleistungen rund um das Lernen anzubieten.
Was wird durch die Einführung des Lernmodells am WIFI denn dann so anders sein als in anderen Einrichtungen der Erwachsenenbildung?
In der Organisation wird es viele Nadelstiche brauchen, viele Zusammenkünfte. Denn selbstverständlich muss auch das WIFI selbst eine lernende Organisation sein, die das Lernmodell widerspiegelt. Entscheidend ist auch, dass die Erfahrungen der Trainer/innen einfließen. Wirksame, nachhaltige Lernprozesse sind der Trend der Zeit – die Teilnehmer/innen kommen mit entsprechenden Erwartungen und müssen merken, dass das WIFI diesen Trend mit hervorragenden Trainern, in der Konzeption von Curricula und Seminaren am professionellsten umsetzt.
Sind die aktivierenden Methoden des neuen Lernmodells für alle Lernenden geeignet? Kann es sein, dass vielleicht ältere Kursteilnehmer/innen, die den Frontalunterricht gewohnt sind, damit Schwierigkeiten haben?
Vielleicht wirken neue Methoden anfangs irritierend, doch Menschen lieben es, zu kooperieren. Kompetenzwirksames Lernen tut außerdem allen gut. Es ist eine Frage, wie man aufeinander zugeht. Wer erfährt, dass er oder sie selbst lernen kann und Talente hat, wird persönlich gestärkt. Talente sind ja nicht angeboren, sondern entwickeln sich durch Erfahrung.
Welchen Vorteil werden die WIFI-Kunden vom neuen Lernmodell haben? Und wie wird sich das messen lassen?
Den Erfolg des neuen Lernmodells werden am schnellsten die Unternehmen merken. Denn wer beim WIFI war, ist gestärkt, traut sich mehr zu und agiert innovativer. Viele Impulse für die Erwachsenenbildung kommen ja aus Betrieben, die sagen: So, wie die Menschen heute aus der Schule kommen, können wir sie nicht brauchen. Führungskräfte wollen immer weniger „herrschen“, sondern sie wünschen sich, dass sich die Menschen selbst bewegen.
Was können Unternehmer/Personalisten von diesem Ansatz lernen? Wie können Unternehmer/Personalisten nachhaltiges Lernen in den Betrieben verankern?
Beobachten Sie, wie avantgardistische Unternehmen das machen! Sie offerieren den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Möglichkeiten zum Lernen und Ausprobieren. Routinen werden aufgeweicht, damit Neues entstehen kann. Mein Tipp an Unternehmen ist: Gewähren Sie Freiräume, honorieren Sie Ideen, fördern Sie kritische Gedanken und bringen Sie den Menschen Wertschätzung entgegen!
Gibt es volkswirtschaftliche Zahlen, was falsches Lernen der Gesellschaft kostet?
Es geht nicht um die Geldmenge an sich. Vielmehr sollten wir uns angesichts hoher Bildungskosten fragen, ob es sich lohnt, so viel Geld auszugeben für das, was herauskommt. Wenn wir auf die Stärkung der Kompetenzen setzen, auf moderne Didaktik, dann rechnen sich Bildungsaufwendungen.
Abschlussfrage: Was fasziniert Sie persönlich am Lernen?
Mich faszinieren die unglaublich revolutionären Potenziale, die in Lernenden schlummern, und die zur Entfaltung gelangen können, wenn wir es nicht verhindern. Zum Beispiel ist es möglich, in nur drei Monaten eine neue Fremdsprache verhandlungssicher zu beherrschen! Faszinierend finde ich auch, dass wir lernen, wenn wir es gar nicht merken. Leben bedeutet Lernen.